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Wie entwickelt man Brillengläser, die zu unserem digitalen Lifestyle passen?

BESSER SEHEN im Interview mit Timo Kratzer von ZEISS Vision Care zur Entwicklung von Digital Brillengläser

16 Oktober 2019
  • Wie entwickelt man Brillengläser, die zu unserem digitalen Lifestyle passen?

Man sollte meinen, dass es bereits für jedes Sehproblem eine Brillenglaslösung gibt. In diesem Fall nicht: ZEISS hat das Sehen in unserer von Blicken auf Smartphone und Tablet PC geprägten neuen digitalen Welt ganz genau unter die Lupe genommen und kam zu erstaunlichen Ergebnissen. Daraus entwickelte sich eine Sehlösung, die echte Entlastung schafft. BESSER SEHEN wollte genau wissen, wie es zur Entwicklung der ZEISS Digital Brillengläser kam, und befragte dazu Timo Kratzer, den Leiter der Entwicklungsabteilung für Brillenglasdesign und Patente bei ZEISS.

BESSER SEHEN: Nun hat ZEISS gerade die Einführung der Digital Brillengläser hinter sich. Mit diesen neuen Brillengläsern scheinen Sie ein wichtiges Sehphänomen unserer Zeit zu bedienen. Wie kam es zu der Entwicklung von ZEISS Digital Brillengläsern?

Timo Kratzer: Die Entwicklung von Digital Brillengläser war ein längerer Prozess, und die Idee zu diesem Brillenglasdesign kam aus vielen Richtungen – aus den Rückmeldungen von Augenoptikern, Endkunden und auch aus unseren Trageversuchen, die wir regelmäßig mit unseren Produkten machen, sowie den Daten aus unserer Brillenglasherstellung, die wir immer wieder analysieren.

Digitale Endgeräte wie Smartphone oder Tablet PC sind zu unseren täglichen Begleitern geworden. Wir blicken äußerst häufig auf sie. Wir analysierten das Sehverhalten dabei genau, denn wir stellten fest, dass Menschen zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr gerade am Abend häufig über müde und überanstrengte Augen klagten. Teilweise konnten die Betroffenen erst gar nicht feststellen, dass sie unscharf in der Nähe sehen. Sie fühlten sich einfach nur nicht mehr so wohl wie früher. Mitunter mussten sie digitale Endgeräte wie z.B. Smartphone oder iPad schon etwas weiter weghalten, um die Augen darauf scharf stellen zu können.

Unsere Analyse zeigte, dass mehrere Aspekte hier zusammenkommen. Erstens lässt leider bereits mit Mitte 30 die Akkommodation, also die Anpassung des Auges auf das Scharfsehen unterschiedlicher Entfernungen, nach. Dies ist ein schleichender Prozess, den man gar nicht erst wirklich bemerkt. Hinzu kommt zweitens, dass man bei der Nutzung insbesondere eines Smartphones, aber auch beim Zeitunglesen viel häufiger als normal den Blick von der Nahsicht auf das Gerät und der Ferne wechselt. Die Augen müssen ständig auf die neue Entfernung fokussieren. Das strengt an, besonders dann, wenn die Schnelligkeit des Augenmuskels durch eine Versteifung der Augenlinse nachlässt. Drittens handelt es sich um eine andere Sehentfernung als beispielsweise beim Lesen. Dies war bisher unser geringster Sehabstand, den wir häufig fokussiert haben. Das Handy hält man viel näher vor die Augen als ein Buch.

Die Augen müssen ständig auf die neue Entfernung fokussieren. Das strengt an, besonders dann, wenn die Schnelligkeit des Augenmuskels durch eine Versteifung der Augenlinse nachlässt.

Timo Kratzer

Leiter der Entwicklungsabteilung für Brillenglasdesign und Patente bei ZEISS.

Wie entwickelt man Brillengläser, die zu unserem digitalen Lifestyle passen?

BESSER SEHEN: Wie kam es mit diesem neuen Wissen dann zum Brillenglasdesign der Digital Brillengläser?

Timo Kratzer: Uns war klar, dass wir mit diesem Wissen eine neue Brillenglas-Kategorie eröffnen mussten. Denn wir würden kein Einstärkenglas brauchen, aber auch kein Gleitsichtglas.

Entscheidend für Digital Brillengläser, so wie sie heute zu kaufen sind, war eine Sehunterstützung im Nahbereich für den Blick auf das digitale Endgerät in einem Abstand von ca. 30 Zentimetern und gleichzeitig ein großer Fernbereich mit einem schnellen Übergang beider Sehzonen. Somit haben wir eine Addition – von 0,5 bis 1,25 Dioptrien – im unteren Bereich des Brillenglases, die so gering wie nötig ist, verbunden mit einer ungestörten Fernsicht. Der Vorteil: Digital Brillengläser können den gesamten Tag als Alltagsbrille für alle Tätigkeiten getragen werden. Und das mit einer sehr hohen Spontanverträglichkeit. Ein Brillenwechsel oder das Aufsetzen einer Lesebrille wird somit vermieden. Es sei denn, man möchte die Sonne genießen und trägt eine Sonnenbrille.

BESSER SEHEN: Kann man denn auch für seine Sonnenbrille Digital Brillengläser erhalten?

Timo Kratzer: Ja, man kann das Digital Brillengläser Design auch in getönter Form oder als selbsttönende Brillengläser erhalten. Es ist aber für Brilleneinsteiger ebenfalls möglich, wenn keine Korrektion für die Ferne benötigt wird, im oberen Teil sogenanntes Fensterglas integrieren zu lassen und nur im unteren Bereich eine Nahunterstützung zu erhalten.

BESSER SEHEN: Was war weiterhin wichtig bei der Entscheidung für das richtige Design?

Timo Kratzer: Bei jeder Entwicklung neuer Brillenglasdesigns sind intensive Tragetests äußerst entscheidend. Wir wollen wissen, wie unsere Designs im Alltag bei den unterschiedlichsten Menschen funktionieren. Ob sie eine entscheidende Verbesserung bringen und gut vertragen werden. So statten wir eine Gruppe von Testern aus, die nach einem normierten Verfahren genau Buch führen müssen, was am neuen Brillenglas gut und was nicht so gut ist. So vergleichen wir verschiedene berechnete Designs miteinander und optimieren immer wieder unsere Berechnungen, bis es passt.

BESSER SEHEN: Im Zusammenhang mit Digital Brillengläser sprechen Sie von digitalem Sehstress. Was ist genau damit gemeint? Und wie kann man herausfinden, ob man bereits unter digitalem Sehstress leidet?

Timo Kratzer: Mit zunehmendem Alter wird unsere Augenlinse steifer. Wechseln wir nun ständig den Blick zwischen Nähe – dem Smartphone – und der Ferne, kann das für die Augen sehr anstrengend sein. Das nennen wir digitalen Sehstress. Es ist nicht unbedingt so, dass das Auge in bestimmte Sehentfernungen nicht mehr scharf stellen kann, sondern länger dafür benötigt und sich somit mehr anstrengen muss. Ich habe das beispielsweise gemerkt, als mein kleiner Sohn einen Holzsplitter im Finger hatte und ich diesen mit einer Pinzette ziehen wollte. Man muss eigentlich ganz nah auf den Finger schauen. Ich musste aber nun den Finger immer weiter weg halten, um scharf zu sehen. Die Nahsicht wird einfach schwieriger.

Um zu testen, ob man die ersten Anzeichen von digitalem Sehstress zeigt, haben wir einen Test entwickelt. Man schaut abwechselnd auf ein Display und dann in die Ferne, und es wird analysiert, wie schnell sich die Augen auf die jeweilige Entfernung scharf stellen. Diesen Test kann man beim ZEISS Augenoptiker durchführen oder für einen schnellen ersten Selbsttest auch mit unserer kostenlosen App machen.

Mit zunehmendem Alter wird unsere Augenlinse steifer. Wechseln wir nun ständig den Blick zwischen Nähe – dem Smartphone – und der Ferne, kann das für die Augen sehr anstrengend sein. Das nennen wir digitalen Sehstress.

Timo Kratzer

Leiter der Entwicklungsabteilung für Brillenglasdesign und Patente bei ZEISS.

BESSER SEHEN: Das klingt ja ganz einfach. Was kann ich denn außerdem noch zur Entspannung meiner Augen tun?

Timo Kratzer: Die Wirkung von Sehtraining ist umstritten. Was aber hilft, ist, die Augen regelmäßig den Tag über zu entspannen. Dies erreicht man, wenn man regelmäßig den Tag über entspannt – ohne etwas Bestimmtes zu fokussieren – in die Ferne schaut. Man sagt, fünf Minuten pro Stunde!


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